Kaderstrophal bis interessant – Löws WM-Kader für Brasilien

Kein Mario Gomez, kein Max Kruse, kein René Adler, kein Bernd Leno – das vorläufige, 30-köpfige Aufgebot von Bundestrainer Joachim Löw für die WM in Brasilien hatte tatsächlich wieder größere und kleinere Überraschungen parat. Sieben Spieler muss Löw bis Anfang Juni noch streichen. Hier eine erste Einschätzung.

TOR

Manuel Neuer (Bayern München): Seit vier Jahren gesetzt als Nummer eins, seine Nominierung war nur logisch.

Roman Weidenfeller (Borussia Dortmund): Der 33-Jährige hat sich die Nominierung durch konstant starke Leistungen im Verein über Jahre verdient. Profitierte aber auch vom Leistungsloch des Hamburgers René Adler (29), der bei Löw als “erfahrene” Nummer zwei lange gesetzt schien.

Ron-Robert Zieler (Hannover 96): Wie schon bei der EURO 2012 die deutsche Nummer drei. Damals war er dank starker Leistungen im Verein nicht unverdient dabei, dieses Mal überrascht seine Nominierung. Über die Saison 2013/14 waren Bernd Leno (Leverkusen), Marc-André ter Stegen (Gladbach), Oliver Baumann (Freiburg) und einige mehr besser.

ABWEHR

Philipp Lahm (Bayern München): Zumindest offiziell wurde der Kapitän als Verteidiger nominiert. Vielleicht ein kleiner Fingerzeig, dass Löw den 29-Jährigen als Außenverteidiger und nicht als defensiven Mittelfeldspieler einplant. Der deutschen Abwehr würde dieser Schritt sicher Stabilität verleihen.

Per Mertesacker (FC Arsenal): Seine Nominierung war glasklar. Seine dritte Saison bei Arsenal war seine beste. Dürfte im Zweikampf mit Mats Hummels neben der “rustikalen” Lösung Jerome Boateng in der Innenverteidigung die Nase vorn haben.

Jerome Boateng (Bayern München): Ebenfalls ein klar erwarteter Kandidat. Nicht mehr auf dem Niveau der Vorsaison, sondern wieder eine potenzielle “Sollbruchstelle”. Löw-Liebling, der keinesfalls um die endgültige Nominierung in den 23er-Kader bangen muss.

Mats Hummels (Borussia Dortmund): Wechselhafte Saison mit kleinen Krisen und Verletzungen. Zuletzt wieder auf dem Weg zu seinem Top-Niveau. Wenn fit, ist er der beste deutsche Innenverteidiger. Liefert sich in der Vorbereitung wohl mit Mertesacker ein Duell um den Platz neben Boateng – geht aber wohl mit leichten Nachteilen ins Rennen.

Benedikt Höwedes (Schalke): Vierter Innenverteidiger im WM 2014 Kader, hat auch schon als Rechtsverteidiger ausgeholfen. Hat eine durchschnittliche Saison hinter sich. Eigentlich ein sicherer Kandidat für den endgültigen 23er-Kader, aber ohne große Einsatzchancen.

Kevin Großkreutz (Borussia Dortmund): Nach Philipp Lahm der beste Rechtsverteidiger im Kader mit großen Allrounder-Qualitäten. Hochverdiente Nominierung nach starker Saison. Brasilien sollte gebucht sein, alles andere wäre nicht nachvollziehbar.

Erik Durm (Borussia Dortmund): Neuling. Ligaweit neben André Hahn der Aufsteiger der Saison. Als gelernter Angreifer nach Dortmund gekommen, hat Jürgen Klopp ihn zu einem der besten Linksverteidiger der Liga geformt. Duelliert sich mit Marcell Jansen und seinen Klub-Kollegen Marcel Schmelzer um maximal zwei freie Plätze für Brasilien.

Marcel Schmelzer (Borussia Dortmund): Nie ein Löw-Liebling, 2012 vom Bundestrainer gar öffentlich als Notnagel tituliert. Lange mangels Alternativen aber als Linksverteidiger gesetzt. Auch aufgrund von Verletzungen hatte er zuletzt Probleme im Verein im Zweikampf mit Durm – die könnten ihm auch im Kampf um die endgültige Nominierung für Brasilien blühen.

Marcell Jansen (Hamburger SV): In der Hinrunde bei einem schwachen HSV noch einer der Besseren, in der Rückrunde hat er sich dem Niveau der Kollegen angepasst. Löw schätzt an ihm seine Dynamik, defensiv ist er aber sehr anfällig. Im Dreikampf mit Durm und Schmelzer zumindest nicht in der Favoritenstellung.

Shkodran Mustafi (Sampdoria Genua): Der große Unbekannte. Noch nie auf Profiniveau in Deutschland gespielt. Im März für den Chile-Test erstmals nominiert, aber ohne Einsatz geblieben. Beim Serie-A-Mittelklasseklub Sampdoria Genua erhält er regelmäßig gute Kritiken. Wohl zum “Reinschnuppern” dabei. Vorläufige Nominierung wohl auch nur mangels guter Alternativen (Badstuber nach langer Verletzung nicht fit, Westermann und einige mehr schwach).

MITTELFELD / ANGRIFF

Bastian Schweinsteiger (Bayern München): Nicht in der Gala-Form von 2010, aber wohl etwas besser drauf als 2012. Seine Nominierung war glasklar, der Bayern-Star soll die Mannschaft bei seinem bereits sechsten großen Turnier als leicht ergrauter “Leitwolf” anführen. Zweifel sind erlaubt. Bewiesen hat er dies jedenfalls noch nicht.

Sami Khedira (Real Madrid): Bei ihm ist der Bundestrainer von seinem Mantra, nur fitte und formstarke Spieler zu nominieren, abgewichen. Aus gutem Grund: Obwohl gerade erst von seinem Kreuzbandriss aus dem November genesen, ist Khedira als Abräumer, Antreiber und Führungsspieler unverzichtbar. Ohne Sami geht nix. Allerdings muss er jetzt binnen fünf Wochen seine WM-Form finden.

Thomas Müller (Bayern München): Der WM-Torschützenkönig von 2010 durfte nicht fehlen. Fünf Jahre Profi, nie eine schwache Saison gespielt. Der “Raumdeuter” ist als Instinktfußballer weltweit ein Unikat. Dürfte auf dem rechten Flügel zu jetzigen Zeitpunkt die Nase vorn haben, auch als Angreifer denkbar.

Marco Reus (Borussia Dortmund): Aktuell wohl der formstärkste deutsche Offensivspieler. In den Beinen wie im Kopf superschnell, dazu verbessert im Abschluss. Der linke offensive Flügel ist das Revier von “Woody Woodpecker”. Auch er könnte allerdings zur Angriffsoption werden.

Mesut Özil (FC Arsenal): Löw- und Fan-Liebling. Bei allem Talent und aller Kunstfertigkeit muss der teuerste Deutsche auf dem Transfermarkt (im Sommer für 50 Millionen Euro von Real Madrid nach London gewechselt) aber seine Lethargie ablegen und vor allem auch mal in einem großen Spiel brillieren, in dem es gegen die Mannschaft. Ansonsten wird die “Nummer zehn” zum Anführer des Untergangs.

Miroslav Klose (Lazio Rom): Der einzige waschechte Stürmer im vorläufigen Aufgebot, nachdem Mario Gomez außen vor gelassen wurde. Mit 36 in die Jahre gekommen, zudem in der letzten Saison mit vielen kleinen Verletzungen. Fußball-Deutschland hat aber schon mehrfach an seinem besten Länderspieltorschützen und WM-Torschützen (68 bzw. 14 Tore, jeweils geteilter Rekord mit Gerd Müller) gezweifelt. Bislang hat Klose die Kritiker immer wiederlegt. Wäre schön, wenn es ein letztes Mal klappt.

Mario Götze (Bayern München): Insgesamt ein ordentliches erstes Bayern-Jahr für den Ex-Dortmunder. Dort nicht des Trainers Liebling, aber immer wieder mit Ausrufezeichen, die Lust auf mehr machen. Im Nationalteam auf allen Offensivpositionen einsetzbar, wenn auch zu Beginn der Vorbereitung wohl auf keiner Position erste Wahl. Am nächsten an der Startelf im Angriff als “falsche Neun”.

Toni Kroos (Bayern München): Typischer Lieblingsspieler seiner Trainer, ob sie Löw, Heynckes oder Guardiola hießen. Ein Stratege vor dem Herrn, aber ohne Dynamik und oftmals auch ohne Mumm in den entscheidenden Momenten. 2010 hatte er im Halbfinale gegen Spanien den Siegtreffer auf dem Fuß, 2014 ist die Chance zur Rehabilitation. Ansonsten bleibt er wohl auf ewig ein “Gerne-Kroos” – zumal er ohnehin nach aktuellem Stand “nur” 12. oder 13. Mann im Kader ist.

Lars Bender (Bayer Leverkusen): Die erste Alternative zu Sami Khedira als defensiv denkender Sechser. Nicht mehr so formstark wie 2012, aber dank ordentlicher Spieleröffnung und Vielseitigkeit (hat auch schon hinten rechts gut ausgeholfen) ein sicherer Kandidat für den finalen 23er-Kader – zumal sein bissiger Zwillingsbruder Sven nach Schambeinentzündung nicht nominiert wurde.

Lukas Podolski (FC Arsenal): Als Stimmungskanone nicht zu ersetzen. Dazu ist der oft als eindimensional verschriene Linksfuß einer der wenigen Dynamiker in einem Team voller Edeltechniker, denen manchmal die Entschlossenheit vor dem Tor fehlt. “Poldi” nimmt Maß und knallt – fünf WM-Tore hat er schon von 2006 und 2010 auf dem Konto. Dieses Mal aber bestenfalls Reservist. Muss sich wohl gegen André Schürrle und Julian Draxler sowie die jungen Kevin Volland und Max Meyer bis zum Final Cut des Aufgebots behaupten. Vorne links hat Löw schließlich ein Luxus-Problem.

André Schürrle (FC Chelsea): Der Shooter im deutschen Team mit dem Schema F (von links nach innen ziehen, mit rechts draufhalten) hat sich in seinem ersten Jahr unter José Mourinho nach zwischenzeitlichen Schwierigkeiten insgesamt ordentlich behauptet. Dürfte gute Karten für den endgültigen Kader haben, muss seinen Platz aber absichern. Wegen seiner Kaltschnäuzigkeit vor dem Tor ebenfalls ein Not-Kandidat für die Sturmspitze.

Julian Draxler (Schalke 04): International eines der “heißesten” Talente. Vor der Saison plante er den Aufstieg zur Nummer zehn – nicht nur auf Schalke, sondern auch im DFB-Team. Nach mäßiger Saison war er meist doch wieder “nur” auf dem linken Flügel zu finden. Edeltechniker mit starken Anlagen, der aber den nächsten Schritt machen muss: weg vom Talent, hin zum Star. Wegen seiner Vielseitigkeit ein Löw-Liebling. Hat seinen Platz im endgültigen Kader wohl noch nicht zu 100 Prozent sicher. Immerhin ist da auch noch Max Meyer.

Max Meyer (Schalke 04): Neuling. Der Teenager hat Draxler in der abgelaufenen Saison bei Schalke ein bisschen den Rang abgelaufen. Der wieselflinke Dribbler setzt sich durch seine unorthodoxe Spielweise von der Konkurrenz im deutschen Mittelfeld ab. Daher möglicherweise nicht nur zum Reinschnuppern im vorläufigen Kader. Könnte den Arrivierten Podolski, Schürrle oder Draxler Probleme machen.

Kevin Volland (1899 Hoffenheim): Neuling. Erstmals eingeladen, obwohl seit fast zwei Jahren auf konstant hohem Niveau. Der 21-Jährige ist ein kräftiger Offensivallrounder mit gutem Auge, guter Technik und toller Physis. Im “deutschen” System aber als einzige Spitze eigentlich nicht ideal aufgehoben. Mit seinem Potenzial muss er in den endgültigen Kader, aber gut möglich, dass Löw auf Reus, Götze, Özil, Müller oder Schürrle als Alternativen für den Angriff vertraut. Spätestens nach Brasilien wird Vollands Zeit aber kommen.

Matthias Ginter (SC Freiburg): Im März mit Kurzeinsatz gegen Chile debütiert. Eigentlich Innenverteidiger, in Löws Planungen aber wohl eher als dritter Mann für den defensiven Sechserpart vorgesehen. Wackelkandidat für den 23er-Kader.

André Hahn (FC Augsburg): Vor 18 Monaten noch in der 3. Liga, nach guten eineinhalb Jahren im Oberhaus ist der schnelle rechte Mittelfeldmann im Kreis der Nationalelf. Bislang einmal eingeladen, noch ohne Einsatz. Hat nicht mehr die Form der Hinrunde, vermutlich steigt er daher auch nicht in den Flieger nach Brasilien.

Leon Goretzka (Schalke 04): Fast noch die größere Überraschung als Klubkamerad Max Meyer. Hatte Anpassungsschwierigkeiten nach seinem Wechsel aus Bochum (inklusive wochenlangem Transfer-Hickhack). Der zentrale Mittelfeldspieler war allerdings in den letzten Wochen einer der besten Schalker. Alternativen auf seiner Position sind genug vorhanden. Goretzka wird nach der WM größere Chancen haben. Wohl noch nicht dabei.

DIE NICHT-NOMINIERTEN

Mario Gomez (AC Florenz): Früh war klar, dass er nicht den gleichen Status wie Khedira haben würde, der ohne Spielpraxis nach langer Verletzung dabei ist. Eigentlich sprach nur der Mangel an Sturm-Alternativen für Gomez’ Nominierung. Fit an guten Tagen einer der besten Knipser auf dem Planeten, aber nach seiner schwarzen Saison wäre ein unfitter Gomez wohl keine große Hilfe gewesen.

Ilkay Gündogan (Borussia Dortmund): Aufgrund massiver Rückenbeschwerden seit dem 13. August 2013 (!) ohne Pflichtspieleinsatz. Seit Monaten ist für den Mittelfeldspieler nicht mehr drin als Lauftraining und allenfalls leichtes Balltraining. Der Techniker ist ein medizinisches Rätsel. Fit wäre er eine absolute Bereicherung gewesen, zumal er vor seiner Verletzung mindestens auf Augenhöhe mit Platzhirsch Schweinsteiger war.

René Adler (Hamburger SV): Passte sich seiner schwachen Vereinsmannschaft an. Zuletzt sogar unsicherer als so mancher Kollege. In dieser Verfassung zu Recht nicht nominiert.

Bernd Leno (Bayer Leverkusen): Im Spieljahr 2013/14 mindestens der drittbeste deutsche Keeper. Nach dem Leistungsprinzip müsste er anstelle von Zieler im Kader stehen.

Marc-André ter Stegen (Borussia Mönchengladbach): Der künftige Barca-(Ersatz?-)Keeper hat ein gutes bis sehr gutes Jahr hinter sich. Bei seinen drei bisherigen Einsätzen im DFB-Dress aber hypernervös bis übermotiviert. Zwölf Gegentore aus diesen Spielen sind wahrlich keine gute Bewerbung.

Max Kruse (Borussia Mönchengladbach): Vor einem Jahr in Freiburg noch der Shooting Star schlechthin. Auf der USA-Reise im Juni 2013 und auch danach von Löw in höchsten Tönen gelobt. Brillierte auch in Gladbach als Neuzugang bis zum Winter. Dann ein Leistungsloch, zuletzt wieder mit aufsteigender Tendenz. Löw kann ihn zuhause lassen, muss er aber nicht.

Sven Bender (Borussia Dortmund): Sein kämpferisches Element hätte der Mannschaft gut getan. Hat nach gerade auskurierter Schambeinentzündung bei Löw aber nicht das Standing, um mit einem zugedrückten Auge nominiert zu werden. Schade. Würde ein WM-Finale vermutlich auch mit gebrochenen Beinen zu Ende spielen. Und wäre für das Team dabei vermutlich eher eine Hilfe als Mesut Özil.

Heiko Westermann (Hamburger SV): Steht bei Löw traditionell hoch im Kurs. Man musste daher eigentlich mit der Nominierung von “HW4″ rechnen. Zum Glück tritt nicht jede Erwartung ein.

Stefan Kießling (Bayer Leverkusen): Gnihi.


Dieser Artikel erschien ursprünglich auf www.aktives-abseits.de.

Bild: Jacob Enos (CC BY-SA 2.0)

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